Begierde und Gier
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Begierde und Gier

Etwas zu verlangen - und es stark zu verlangen - gehört zum Menschen.

min Lesezeit | Bernhard Meuser

Was ist das?

Etwas zu verlangen - und es stark zu verlangen - gehört zum Menschen. Gott hat ihn so geschaffen, dass er Grundbedürfnisse hat (leben wollen, satt werden, sich vermehren), denen machtvolle vorrationale Antriebe entsprechen: der Machttrieb, der Selbsterhaltungstrieb, der Sexualtrieb. Das Neunte der Zehn Gebote, so heißt es in YOUCAT 462, „wendet sich nicht gegen das Begehren an sich, sondern gegen ungeordnete Begierde. Die ‘Begehrlichkeit’, vor der die Heilige Schrift warnt, ist die Herrschaft der Triebe über den Geist, die Dominanz des Triebhaften über den ganzen Menschen und die dadurch hervorgerufene Sündhaftigkeit.“ Die erotische Anziehung zwischen Mann und Frau, sagt YOUCAT 462, „wurde von Gott geschaffen und ist daher gut; sie gehört zum geschlechtlichen Wesen und zur biologischen Verfasstheit des Menschen. Sie sorgt dafür, dass Mann und Frau sich miteinander verbinden, und Nachkommenschaft aus ihrer Liebe hervorgehen kann.“ Mit dem lateinischem Wort Konkupiszenz (für böse Begehrlichkeit) ist die Desintegration der natürlichen Antriebskräfte, der Widerstand gegen das Gute und die fortdauernde Geneigtheit des Menschen zum Bösen gemeint, die dem Menschen auch nach seiner Taufe bleibt. „Aus Gier resultieren Habsucht, Diebstahl, Raub und Betrug, Gewalt und Ungerechtigkeit, Neid und maßloses Verlangen nach der Aneignung von fremdem Gut.“ (YOUCAT 465)

 

Was sagt die Heilige Schrift?

Das Neunte und das Zehnte Gebot sind dem falschen Wünschen gewidmet: „Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen. Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen, nach seinem Sklaven oder seiner Sklavin, seinem Rind oder seinem Esel oder nach irgendetwas, das deinem Nächsten gehört.“ (Ex 20,17) Im Neuen Testament ist die Herrschaft der Begierde über den Menschen - 2 Petr 1,3 spricht von der „verderblichen Begierde, die in der Welt herrscht“ - grundsätzlich überwunden, denn „die Gnade Gottes ist erschienen, um alle Menschen zu retten. Sie erzieht uns dazu, uns von der Gottlosigkeit und den irdischen Begierden loszusagen und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt zu leben.“ (Tit 2,11-12) Sich der Herrschaft falscher Wünsche und Begierden zu überlassen, gilt als Kennzeichen einer überholten Lebensweise; so fordert Paulus in Eph 4,22.25 auf: „Legt den alten Menschen ab, der in Verblendung und Begierde zugrunde geht, ändert euer früheres Leben. ... Legt deshalb die Lüge ab und redet untereinander die Wahrheit.“

Die kleine YOUCAT-Katechese

Die Abgründe sind bewohnbar

In der Zeit, in der meine Seele ein ziemlicher Kampfplatz war, besuchte ich die Mönche in Taizé. Das Dörfchen im französischen Burgund ist ein wunderbarer Ort, um zur Ruhe zu kommen, zu Beten, in der Heiligen Schrift zu lesen. Und natürlich war ich (wie tausend Andere auch) wegen ihm gekommen – wegen dem legendären Frère Roger Schutz. Man fuhr zu dieser Zeit nach Taizé, um ihn zu hören und Weisung aus der Tiefe göttlicher Gegenwart zu bekommen. Es war wenige Jahre bevor der greise Prior der Communauté im Sommer 2005 ermordet wurde. Wir wurden nicht enttäuscht. Was der alte Mann da aus dem Schweigen schöpfte, war aufregend. Ich kann die Worte nicht mehr wiedergeben, fand sie aber später wieder in einem seiner Bücher. Es ging um das Chaos in mir, die wilden Querschüsse in meiner Seele, mit denen ich glaubte allein zu sein auf der Welt. Aber da sollte ich mich täuschen. Frère Roger sprach über eine Wirklichkeit „in jedem von uns“.

Wie? In jedem von uns?

Frère Roger ließ uns wissen: „In jedem von uns verbergen sich Abgründe, Unbekanntes, Zweifel, wilde Leidenschaften, geheimes Leid, ... aber auch Schuldgefühle, niemals Eingestandenes, so sehr, dass sich uns ungeheure Leeren auftun. Triebe wühlen uns auf, man weiß nicht, woher sie kommen - urväterliche Erinnerungen oder genetische Bestimmtheit?“ Bis dahin war es das Eingeständnis, dass der Mann, in dem wir einen Art Heiligen sahen, vertraut war mit den Abgründen hinter den Augen, mit wildem Verlangen, seelischem Chaos, Querschüssen und innerer Leere. Aber damit beließ es der weise Mönchsvater nicht. Er gab uns eine Verheißung mit: „Wenn wir Christus mit kindlichem Vertrauen in uns beten lassen, werden eines Tages die Abgründe bewohnbar sein. Eines Tages, später einmal, werden wir feststellen, dass sich in uns eine Revolution vollzogen hat.“ Ich übersetze mal: Bete nicht! Lass Christus in dir beten! Wünsche nicht! Lass Christus in dir wünschen! Suche nicht! Lass Christus in dir suchen! Und damit ist eigentlich alles gesagt.

Buddhistisches und christliches Begehren

Im 20. Jahrhundert kam es an verschiedenen Orten in Europa, Asien und Amerika zu einer faszinierenden Begegnung: Erstmals in der Geschichte der beiden Religionen versuchten christliche und buddhistische Mönche eine bestimmte Zeit miteinander zu leben, zu beten und voneinander zu lernen. Dabei sprachen sie auch über ZEN und das „Nicht begehren“. Diese auffällige Aufforderung gibt es sowohl im Buddhismus als auch im Christentum. Christen kennen sie ja aus den Zehn Geboten: „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib ... deines Nächsten Hab und Gut“. Nehmen wir zum Vergleich einen Text aus dem taoistischen Buddhismus: Bodhidharma, ein Meister aus dem 6. Jahrhundert, lehrt: „Wo auch immer ein Begehren ist, da findest du Leiden, wenn das Begehren aufhört, bist du frei vom Leiden. Nicht-Begehren ist der Weg zur Wahrheit. Darum sage ich euch: Seid ohne Begehren!“

In seinem Klassiker „Sein und Haben“ (1976) stellte auch der Sozialphilosoph und Psychoanalytiker Erich Fromm (1900-1980) diese Übereinstimmung fest. Buddhismus und Christentum vereinigen sich im Protest gegen menschliche Praktiken, die Glück durch „Haben“ - und nicht durch „Sein“ versprechen. „Die Gier“, sagt Erich Fromm, „ist immer das Ergebnis einer inneren Leere.“ Menschen, die im Haben-Modus leben, verfallen der Hab-Gier; sie sind nur etwas, wenn sie möglichst viel besitzen; sie definieren sich über die Menge und den Glanz der Gegenstände, die sie umgeben; sie sagen: „Ich bin, was ich habe“. Der habgierige Mensch hat Liebe nur zum Toten; das Lebendige kann er nicht lieben. Er kann die schöne Blume nicht stehen lassen; er muss sie zerstören, um sie zu besitzen. Deshalb plündert, raubt, erobert und tötet er. Am Ende hat er alles und ist nichts. Die Gier nach toten Dingen muss man heute erweitern, indem wir auf die Gier nach den toten Bildern schauen, die uns in der Pornographie begegnet. Auch hier kann man alles haben und bekommt nichts. Aufgerufen werden Trugbilder. Der leibhaftige Mensch, nach dem man sich sehnt – ist ein elektronischer Bluff. Das „Du“ ist der Monitor, der die Objekte der Begierde in grenzenlose Vielfalt anbietet. Es kommt zu keiner menschlichen Begegnung. Die Konkupiszenz, die falsche Begehrlichkeit, bringt eine Befriedigung, die den Frieden raubt. Sie nährt nur den Hunger und häuft Schätze an, die nicht existieren. Und auch hier gilt, was für die Sucht nach toten Dingen gilt: „Du Narr!“ sagt der Gott der Christen, „Noch in dieser Nacht wird man dein Leben von dir zurückfordern. Wem wird dann all das gehören, was du angehäuft hast? So geht es jedem, der nur für sich selbst Schätze sammelt, aber vor Gott nicht reich ist“ (Lk 12,20-21). Meister Bodhidharma würde nun empfehlen: „Nicht-Begehren ist der Weg zu Wahrheit“. Eine Schnittmenge mit den biblischen „Du sollst nicht begehren ...“ (Dtn 5,21)?

Eine trügerische Übereinstimmung

Die Übereinstimmung trügt; es ist ein Konsens an der Oberfläche. Buddhismus und Christentum kommen aus diametral entgegengesetzten Gründen zum gleichen Ergebnis. Der Buddhist soll nicht begehren, weil die Fülle der Dinge Trug ist. Er soll nicht begehren, damit das Leben nicht weiter ins Kraut schießt. „Das ganze Leben ist Leiden“, lautet der erste Satz aus den „vier edlen Wahrheiten“ Buddhas. Überwindung des Leidens geschieht in der Überwindung der Gier, in der Absage an unsere Wünsche, in ihrem Durchschauen als Lüge, im Nein. Für Buddhisten ist es daher Weisheit, sich das Wünschen abzugewöhnen, um wunschlos glücklich zu werden. Eine sehr pessimistische Botschaft! Das Nicht begehren! eines Christen hat ganz andere Gründe.

Christen gehen davon aus, dass alles, was Gott geschaffen hat, gut ist. Die Dinge sind verlockend, weil auf ihnen noch der Glanz und Widerschein göttlicher Kreativität ruht: „Schön sind die Blumen, schöner sind die Menschen...“, heißt es in einem alten Kirchenlied. Wir sollen uns freuen an allem, was geschaffen ist, aber wir sollen den Abglanz nicht zum Abgott machen. Paulus empfiehlt zu „haben“, als hätten wir nicht, „... wer kauft, als würde er nicht Eigentümer, wer sich die Welt zunutze macht, als nutze er sie nicht“ (1 Kor 7,30). Warum? Weil der Mensch für ein Übermaß an Erfüllung bestimmt ist und seine Wünsche nicht vergeben soll an Gegenstände, die zu klein sind, um ihn wirklich zu befriedigen.

Wunschlos glücklich

Und was ist mit der Leere, die sich dann auftut, wenn wir einmal verstanden haben, dass wir noch so viele Bilanztitel, Uniabschlüsse, Supermänner/Premiumfrauen, Reisehighlights und Luxus-SUV’s in das klaffende Loch unserer Sehnsucht werfen können, ohne es auch nur annähernd auszufüllen? Das Bild von den Abgründen in uns, die eines Tages „bewohnbar sein“ werden, hatte Frère Roger mit dem Namen Christus verbunden, der in uns betet, in uns nach dem „Abba“ ruft. Nur Gott macht wunschlos glücklich.

Etwas zu verlangen - und es stark zu verlangen - gehört zum Menschen. Gott hat ihn so geschaffen. Er darf sein Begehren nicht verschwenden an das Wertlose: Er soll eine Leerstelle haben für Gott. Das Gute, wo immer es auftaucht, wertzuschätzen und zu begehren führt uns nur hin zu dem Guten, der alles wert ist, dem unbezahlbaren, nicht käuflichen Gott. In einem Atemzug mit der Forderung nach dem Nicht begehren! muss man deshalb immer an Therese von Lisieux‘s (1873-1897) unerhört provokanten Satz erinnern: „Man erwartet nie zu viel von Gott; man bekommt von ihm so viel, als man erhofft.“ ∎